Ohne Schnee ist alles doof (Teil 1)
Matteo starrt aus dem Fenster. Er hat den Kopf auf seine Unterarme gelegt, lässt die Schultern hängen und seufzt. Draußen ist es grau, nebelig und nass. Einfach nur nass, und das einen Tag vor Weihnachten. Matteo hat sich so sehr Schnee gewünscht. Sogar auf seinen Wunschzettel an den Weihnachtsmann hat er „Schnee an Weihnachten“ geschrieben. Aber nichts. Kein Schnee, kein Frost und keine Eisblumen an der Fensterscheibe in Großvaters Wohnzimmer. Draußen ist es mit 14 Grad Celsius warm wie sonst im März. Matteo meint sogar, er könne draußen die Vögel zwitschern hören.
Der Klang schwerer Schritte hallt vom Flur zu Matteo herüber. Sein Großvater kommt aus dem Keller zurück. Matteo hört die Tür quietschen und knarren. Dann das Klappern der Schlüssel auf dem Tresen vor dem Spiegel im Flur. Dann Großvaters Schritte auf dem alten Dielenboden und das Quietschen der Wohnzimmertür.
„Na, was treibst du da, mein Junge,“ hört Matteo die tiefe, brummende Stimme seines Großvaters.
„Nichts,“ sagt Matteo und starrt weiter aus dem Fenster. Sein Großvater Bruno, ein breitschultriger Mann mit weißen Strähnen in seiner rotbraunen Mähne und einem bauschigen Bart, runzelt die Stirn. Er hat gekringelte Augenbrauen und eine Menge Lachfalten um seine braunen Augen, und stets die lustigsten Ideen für kleine Jungen. Aber heute hat Matteo keine Lust auf die Erfindungen seines Großvaters. Er ist bestimmt eine Stunde im Keller gewesen. Matteo hat es Klappern und Scheppern, Rattern und Raspeln gehört. Sicherlich hat sein Großvater wieder etwas gebaut, eine seiner berüchtigten Maschinen. Matteo findet sie sonst ganz spannend und meistens lustig. Aber mittlerweile ist er auch schon elf Jahre alt. Solche Kindereien sind nichts mehr für ihn. Zuletzt hat sein Großvater ihm die Gedankenlesemaschine präsentiert. Deren Drucker spuckte nur schwarze Tinte, die er tagelang nicht von den Händen bekommen hat. Seine Unsichtbarkeitsmaschine kann Bruno seit zwei Jahren angeblich nicht wiederfinden. Matteo hat immer noch die Vermutung, dass es die Maschine gar nicht wirklich gegeben hat.
„Na, das klingt aber noch gar nicht nach weihnachtlicher Vorfreude,“ brummt sein Großvater und streicht sich über sein Bäuchlein, dass sich unter dem Schneeflockenmuster seines Strickpullovers wölbt.
„Ich habe keine Lust auf Weihnachten,“ sagt Matteo und dreht sich auf dem Sessel zu seinem Großvater um.
„Na sowas,“ sagt sein Großvater, „das klang aber vor einigen Tagen noch ganz anders.“
„Ja, da dachte ich auch noch, dass es schneien wird,“ sagt Matteo gequält, „und dass…“ Dann überlegt er kurz, ob er seinem Großvater von seiner größten Sorge erzählen soll. Aber Bruno scheint bereits zu wissen, dass da mehr im Busch war, als fehlender Schnee. Fragend heben sich die Kringelbrauen seines Großvaters.
„Ach Opa,“ seufzt Matteo, „ohne Tante Emmy und Onkel Karl, Sarah, Sascha und Benni wird Weihnachten voll doof. Zu Hause haben wir das Weihnachtsgeschirr von Mama und die Plätzchen von Papa und überhaupt ist es hier nicht so wie sonst.“ Er springt vom Sessel und verschränkt die Arme vor der Brust.
„Aber ich habe mir wirklich viel Mühe mit der Dekoration gegeben,“ sagt sein Großvater mit hochgezogenen Augenbrauen.
„Ja, schon“, gibt Matteo zu, „aber es ist keiner zum Spielen da, und der ganze Abend wird voll langweilig.“
„Aber Matteo, deine Eltern sind morgen da, und Oma Silke und ich. Wir machen‘s uns richtig schön, und wenn du magst, bauen wir die Eisenbahn auf.“
„Eisenbahnen sind langweilig. Ohne Schnee ist alles doof.“ Damit sieht Matteo seinen Großvater mit hängenden Mundwinkeln an.
„Oje, oje,“ brummt Bruno und dreht sich zu dem großen Bücherregal, dass die gesamte Wand des Wohnzimmers einnimmt. Er lässt seinen Blick über einige Bücher und Kisten zu einer Ecke des Regals wandern, wo einige seiner kleineren Erfindungen stehen. Auf der mittleren Ebene steht dort eine rot und grün gestreifte Box, die verdächtig nach einem Schuhkarton aussieht. Unzählige kleine Knöpfe sind wahllos darauf verteilt. Direkt daneben steht die Schneekugel, mit der Matteo immer gern gespielt hat.
„Ich glaube,“ murmelt Bruno, „das ist ein Fall für die Weihnachtsmaschine.“
„Ach Opa,“ mault Matteo, „ich will keine von deinen doofen Maschinen.“
„Junger Mann,“ sagt Bruno scharf, „nicht in diesem Ton. Du verschreckst den Weihnachtsgeist.“ Matteo schnaubt nur. Aber Bruno nimmt die Schneekugel aus dem Regal und reicht sie Matteo.
„Sie nur, sie ist ganz grau und dunkel.“ Matteo nimmt die Kugel, die sich kalt in seiner Hand anfühlt. Darin ist ein kleines Häuschen zu sehen, das ganz so wie das Haus seines Großvaters aussieht. Und wenn er sie schüttelt, dann- Matteo hält inne und runzelt die Stirn. Sollte es in Schneekugeln nicht schneien? Aber in dieser ist gar kein Schnee mehr. Aber der war doch letztes Jahr noch da? Jetzt erinnert sich Matteo, dass die Kugel sonst auch leuchtet und schimmert, wie frisch gefallener Schnee im Sonnenschein.
„Die ist doch kaputt, Opa,“ Matteo hält seinem Großvater die Kugel hin. „Die leuchtet gar nicht mehr.“ Sein Großvater steht vor dem Schuhkarton, streicht sich seinen Bart und murmelt vor sich hin.
„Ja, ja,“ sagt er dann und drückt in rascher Reihenfolge einige der schwarzen Knöpfe. Im Karton klappert es, dann klingelt ein kleines Glöckchen. Matteo wartet darauf, dass noch mehr passiert, aber da dreht sich Bruno zu ihm um.
„Die ist nicht kaputt,“ sagt er und tippt auf das Glas der Kugel, „es gibt hier allerdings einen kleinen Jungen, der gar keine Weihnachtsstimmung in sich trägt. Wie soll da die Kugel in Stimmung kommen.“ Sein Großvater nimmt ihm die Kugel aus der Hand und stellt sie neben den Schuhkarton.
„Aber,“ sagt Bruno und legt Matteo eine Hand auf die Schulter, „ich habe die Weihnachtsmaschine aktiviert. Deinen Weihnachtsmuffel bekommen wir noch hin.“ Ein breites warmes Lächeln wandert auf das Gesicht seines Großvaters. Matteo schaut seinen Opa skeptisch an.
„Da ist doch gar nichts passiert, in dem Schuhkarton“ er starrt ins Regal.
„Das ist kein Schuhkarton,“ sagt Bruno, „sondern ein Weihnachtsstimmungsmixateur.“ Dann grinst er breit. Matteo steckt die Hände in die Hosentaschen.
„Ich will keine Maschinen und Märchen,“ sein Blick wandert wieder zum Fenster, „ich will Schnee und Geschenke und die anderen zum Spielen. Sonst ist es kein Weihnachten.“ Dann schiebt er seine Unterlippe vor und lässt sich in den Lehnsessel neben dem Bücherregal fallen.
„Aber Matteo,“ sagt sein Großvater und lächelt immer noch. „Weihnachten wird es hier erst,“ er breitet seine Arme aus, „wenn es auch dort Weihnachten geworden ist.“ Damit tippt er Matteo auf die Brust, genau auf die rote Nase des Rentiers, das seinen Pullover schmückt. Matteo brummt, verschränkt die Arme und starrt auf den Teppich. Großvater Bruno atmet tief ein und sieht sich dann zu der Schneekugel um. Sie ist nach wie vor matt, nebelig und dunkel. Ganz wie das Wetter draußen vor dem Fenster und ganz wie die Stimmung, die Matteo anscheinend gänzlich eingehüllt hat. Aber Bruno lächelt wissend, als der rot-grün gestreifte Weihnachtsstimmungsmixateur ein kleines, ein wirklich klitzeklitzekleines Bisschen zittert. Denn Bruno weiß, dass diese Maschine einwandfrei funktioniert.
„Wie wäre es, wenn wir gemeinsam in die Küche gehen und eine neue Ladung Lebkuchen backen?“ fragt er Matteo.
„Doof wäre das“, murmelt Matteo und starrt weiter auf den Teppich.
„In Ordnung“, sagt sein Großvater und wendet sich zur Tür. „Ich gehe trotzdem. Öffnest du bitte die Tür, wenn es klingelt?“ Matteo brummt bestätigend zur Antwort und kickt mit dem Schuh gegen die Teppichkante. Es dauert nicht lange und Matteo hört von der Küche her Löffel klappert, Schüsseln klirren und seinen Großvaters, der das Lied von der Weihnachtsbäckerei summt.
„So ein Blödsinn,“ murmelt Matteo, „Weihnachtsstimmungsmixateur,“ wiederholt er und starrt böse auf die Kiste. Dieses Weihnachten ist der Wurm drin, er findet es ganz und gar doof und ist sauer, dass er nicht wie sonst zu Hause feiern kann, sondern mit seinen Eltern hierhergekommen ist. Und während Matteo in dem grünen Lehnsessel seines Opas sitzt, sammelt sich im Weihnachtsstimmungsmixateur eine ganz besondere Mischung, aus Zimt und Koriander, Orangen und Nelken, eine Mixtur, die die Weihnachtsgeister wach und den Muffel zurückruft. Eine Mixatur, die unbemerkt von Matteo durch alle Wände und Dielen, Steine und Bäume dringt und- Das schrille Klingeln der Haustür lässt Matteo hochfahren.
„Ich gehe,“ ruft er seinem Großvater in der Küche zu und stapft muffelig zur Haustür hinüber. Als er öffnet, steht dort der Postbote Herr Hansen. Das ist ein großer schlacksiger Mann, dem die Uniform stets ein wenig zu groß ist und um die Beine schlackert. „Hat hier jemand Schnee bestellt?“
[Fortsetzung folgt…]
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